Kann man überhaupt noch wissen?
Es gibt einfache Sachverhalte wie den Dreisatz oder die Energieerhaltung, die universelle Gültigkeit zu haben scheinen. Die, wenn man sie anwendet, oft erstaunliche Ergebnisse haben, die auch völlig im Gegensatz zu aktuellem "Wissen" stehen können.
Das ist um so häufiger der Fall, je komplexer Systeme werden. Sowas wie "menschlicher Organismus", "Gesundheit", "Wirtschaft", "Logistik", "Klima" hat jeweils so viele Einflussgrößen und Störfaktoren, dass man es nicht mehr überschauen kann, sondern gerne zu vereinfachenden Modellen greift. Die dann oftmals als "absolute Wahrheit" und als "die Wissenschaft" verkauft werden, obwohl sie bestenfalls aktueller Stand des Irrtums sind.
"Wissen" kann auch weh tun. Ein Mitschüler hatte in Physik promoviert und seinen Lebenstraum mit der Forschung an einer Hochschule umgesetzt. Dann wurde ihm gesagt, es sei Schluss mit seiner Forschung, es fehle das Geld. Da fragte er, wie kommt man an Geld. Und hat, persönlich hoch motiviert, erfolgreich Drittmittel eingeworben. Er war darin so erfolgreich, dass er auch von anderen Instituten um Hilfe gebeten worden ist. Seine Weiterbeschäftigung basiert seither vorwiegend auf Geldbeschaffung. Gegen Fördermittel ist an sich nichts einzuwenden. Aber: "Forschung" war vorher an der Erkenntnis selbst orientiert und ergebnisoffen. "Untersucht werden soll der Zusammenhang zwischen..."
Mit den Fördermitteln wird ein Zweck mehr oder minder vorgegeben. "Belegt werden soll, dass..." Nun kann man natürlich zu dem Ergebnis kommen "Es konnte kein Beleg gefunden werden für..." - Aber dann versiegt diese Geldquelle und wird nie mehr sprudeln, sei sie staatlich oder aus der Wirtschaft stammend.
So lauten Studienergebisse "Belegt wird..." Und das liest man dann über mehrere Seiten. Und entweder, wenn man sehr schlau ist, findet man ein sinnfreies Studiendesign mit fragwürdigen Randbedingungen oder seltsame Statisitik. Oder sogar, mittendrin, dass der behauptete Beleg nur zu 1,3% zutrifft.
Das Wissen um diese Einflüsse tut verdammt weh. Und zu wissen, dass so generiertes Wissen nicht der Erkenntnis dient oder nur durch sehr viel Aufarbeitung wie Prüfung und Nutzung der Rohdaten und Korrektur falscher Auswertungen zu echter Erkenntnis führen kann.
Aufgrund einer Erkrankung suche ich regelmäßig nach Studien und stoße ebenso regelmäßig auf grauenvollen Unfug. Manches gibt bestenfalls anekdotische Anregungen.
Warum? Weil die Pysiologie eines dieser komplexen Systeme ist und viel zu viele Störgrößen auftreten. Ein schönes Beispiel ist das sensationelle, über die Jahre angewachsene "Bichemical Pathways"
http://biochemical-pathways.com/#/map/1 zum Stoffwechsel. Wer damit meint, dass alles klar sei, der kann gerne mal über umgesetzte Stoffmengen, über Störgrößen wie (Epi-)Genetik, Ernährung, Umwelt, Verhalten.... diskutieren oder in Lehrbüchern mit teils erheblich abweichenden Angaben nachschlagen. Denen liegen wiederum Studien zugrunde, die... ach, ich erwähnte es ja schon.
Auch Logistik und Handel sind scheinbar ganz triviale Vorgänge, die jedoch kaum überschaubar komplex und störanfällig sind. Einfaches Beispiel: Die Holzpreise sind extrem gestiegen, wenn man Holz kaufen möchte. Zugleich finde ich im Wald allerschönstes, wertvolles Holz, zum Abtransport neben breiten Forststraßen, seit Jahren verrottend. Warum? Keine Logistikkapazität, wegen Fehlkalkulation pleite gegangenes Unternehmen, Datenfehler - es findet sich alles, wenn man ein wenig fragt und telefoniert. Währenddessen verrottet das Holz weiter. Kann ich nicht ändern, ist also nutzloses und schmerzendes Wissen.
Besonders erschreckend finde ich allerdings, dass Macht&Geld sich bestätigendes Wissen kauft und zu Widerstand führendes Wissen zu unterdrücken versucht. Das ist die Steigerung von Nicht-wissen-wollen. Und auf der Suche nach der korrekten oder verständlichen Schreibweise stoße ich auf "Gewolltes Nichtwissen kann als kulturelle Fähigkeit verstanden werden"
https://www.mpg.de/16831533/interview-g ... ichtwissen
...nebst moralischen Implikationen.
Wie in so vielen Fällen, scheint es auch für "Wissen" keine vollständig befriedigende Lösung zu geben.
Dank dieses Forums habe ich etwas mehr Wissen über Schaltnetzteile erworben, vielen Dank. Hingegen war/ist es mir nicht möglich zu verstehen, wie die Auswahl eines Audio-Übertragungsprotokolls über Bluetooth erfolgt und wie sie beeinflussbar ist und warum sie spontan zu "schlecht" wechseln konnte. Ebenso unverständlich ist für mich die USB-Spezifikation, die wissenschaftlich völlig korrekt dargelegt sein mag. Mich aber treibt sie zur Verzweiflung und zur Akzeptanz des Nichtwissens, weil der Aufwand des Verständnisses der komplexen Spezifikation schlichtweg in keinem Verhältnis zum Nutzen für mich steht.
Solche Erlebnisse verschafft mir auch immer wieder Wikipedia, wenn ich mir nur denke "waaas?". Und mich angesichts der Verlinkung ins Unendliche diverser Aspekte des initial gesuchten Wissens nur als Agnotologen empfinden kann. Wissen war zur Zeit 28-bändiger Konversationslexikas von A bis Z noch endlich und begrenzt und zumindest scheinbar komplett zu wissen. Heute hingegen...
Heute beweist mir Julez mit
... was ich alles nicht weiß - und auch gar nicht wissen möchte.
Wann immer hingegen mir die Schwestern und Brüder der Agnotologie sagen "das muss man nicht wissen!" oder "die Wissenschaft sagt" oder "ein Experte sagt" oder "das ist so, weil wir das sagen" - dann werde ich neugierig und hellhörig.
Das ist meine Empfehlung an alle. Sonst nimmt das betreute Denken überhand.